Milchproduktion: eine Mensch-Ding-Tier-Assoziation

Marie-Elisa Marwig

"Ihr Europäer scheint nur Milch statt Blut in den Adern zu haben" (Voltaire)

Deutschland bildet mit einer jährlichen Produktion von gut 32,6 Millionen Tonnen Milch (2016) die Spitze der größten Milchproduzenten in der Europäischen Union (BMEL 2017: 7-9). In der landwirtschaftlichen Produktion ist Milch mit einem Marktanteil von 30 Prozent das wichtigste Produkt für deutsche Landwirt_innen. (Kropp 2006: 217)

 

Die Milchproduktion und der Milchverzehr sind gegenwärtig intensiv diskutierte Themen. Kritische Stimmen vertreten die Meinung, dass der Milchverzehr für den menschlichen Körper ungesund ist. Des Weiteren wird die Trennung der Kälber von ihren Müttern direkt nach der Geburt sowie die Aussonderung der männlichen Kälber kritisch gesehen. Auf der anderen Seite sind Milchbauern und Milchbäuerinnen aufgrund des niedrigen Milchpreises in wirtschaftlich schwieriger Lage (auch wenn der Milchpreis seit einem Tief im Sommer 2016 bis in die Gegenwart wieder deutlich gestiegen ist).

 

Die Vielschichtigkeit der Milchproduktion, die sich hier andeutet, wird noch deutlicher, wenn Cordula Kropp (ebd.: 203-204) zu Beginn ihres Textes "'Enacting Milk': Die Akteur-Netz-Werke von 'Bio-Milch'" schreibt:

  

"Milch, und erst recht Bio-Milch, erscheint zunächst als ein einfaches Produkt – quasi das 'Naturprodukt' par excellence: dem Kuheuter entnommen, abgefüllt und verkauft. Und doch erweist schon der zweite Blick 'Trink-Milch' als ein überaus veränderliches Ergebnis von zu Grunde liegenden Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungsleistungen, die ihrerseits Teil sehr komplexer und vielfältiger Beziehungen von heterogenen Komponenten sind: Im Rahmen dieser Beziehungen interagieren Kühe, Euter, Ställe, Futtermittel, Bauern, Quoten, Mikroben, Milcheigenschaften, Qualitäts- und Hygienestandards, aber auch Regionen, Erfassungsstrukturen, Molkerei(technik)en, Verpackungen, Verkaufswege, Märkte aus Handelskonzernen neben kleinen Naturkostfachhändlern, Kühltheken, Einkaufstaschen, Vorratskammern und VerbraucherInnen und verändern sich mehr oder weniger erfolgreich wechselseitig zugunsten strukturbildender Festschreibungen."

 

Natürlich war es mir im Rahmen des Lehrforschungsprojektes nicht möglich, dieser Fülle an Assoziationen nachzugehen. Ausgehend von unserem Interesse für "Mensch-Ding-Assoziationen am Werk" habe ich jedoch versucht, der Milchproduktion wenigstens ein Stück weit als "Mensch-Ding-Tier-Assoziation" zu folgen. Dazu habe ich mich für den Besuch eines Milchviehbetriebes entschieden. 

Der Landwirt und sein Hof

 

Am Montag, den 12.06.2017 befinde ich mich mit dem Auto auf dem Weg zum Hof Sören Lorenzens (Pseudonym), ein Landwirt aus Schleswig-Holstein, den ich dafür gewinnen konnte, mir Einblick in die Entstehung von Milch zu gewähren. Ich selbst stamme aus Schleswig-Holstein und hatte kein Problem, mit den dortigen Landwirten Kontakt aufzubauen. Nach Anfrage bei Herrn Lorenzen, habe ich ihn eine Arbeitsschicht lang begleitet und mit ihm über die Milchproduktion gesprochen. Nachdem ich von der Landstraße abbiege und auf eine kleine Seitenstraße fahre, zeigt sich bereits der große Hof. Der landwirtschaftliche Betrieb befindet sich in Nordfriesland. 

 

Herr Lorenzen ist Mitte Vierzig und berichtet offen über seine Arbeit und seinen Hof. Er studierte Agrarwissenschaft und übt den Beruf des Milchbauers in der dritten, den des Landwirts in der sechsten Generation aus. Seinen eigenen Hof besitzt Herr Lorenzen seit 2006. Zuvor hatte er auf dem Hof seines Vaters gearbeitet. Heute wird auf dem Hof des Vaters keine Milch mehr produziert. Jedoch stehen zumeist Jungtiere auf dem väterlichen Hof und der Vater arbeitet bei seinem Sohn mit. Darüber hinaus beschäftigt Herr Lorenzens drei Angestellte in seinem landwirtschaftlichen Betrieb.

Kühe und Ställe

 

Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb Sören Lorenzens beginnen wir den Hofrundgang bei den Ställen. Die verschiedenen Laufställe unterteilen die Kühe in unterschiedliche Gruppen. Auf dem Hof von Lorenzens werden die Kühe in Gruppe A, Gruppe B und Gruppe C unterteilt (siehe Bild unten). Insgesamt befinden sich auf dem Hof um die 300 Schwarzbunte und Rotbunte Red Holstein Milchkühe, dazu kommen Jungtiere, Kälber und Bullen. Die Aufteilung betrifft nur die Milchkühe.

 

Die Gruppe A ist die Hochleistungsgruppe. Dies sind Kühe, die gerade erst gekalbt haben und mindestens das zweite Mal tragend waren. Nach dem Kalben ist die Milchproduktion am stärksten. Die Kühe geben die meiste Milch und sind sehr leistungsstark im Vergleich zum Rest der Herde. Sie stehen in dem Stall der Gruppe A für ein halbes Jahr.

 

Wenn die Kühe die Gruppe A verlassen, kommen sie in die Gruppe B. Dies sind die Kühe mit weniger Leistung, also einer nicht so starken Milchproduktion. Meist ist die Zeit in der Gruppe B eine unproblematische Zeit, weil die Kühe weniger anfällig sind für Krankheiten. Die meisten Kühe in dieser Gruppe sind tragend. Ungefähr 50 bis 60 Tage vor dem Kalben werden die Kühe trocken gestellt, das heißt, sie werden nicht gemolken. Diese Zeit gilt als Erholungsphase für die Kühe und soll ihnen Entspannung bringen vor dem Kalben.

  

 

Die Gruppe C wird die Fersengruppe genannt. Dies sind Jungkühe, die bis jetzt nur einmal gekalbt haben oder bald das erste Mal kalben werden. Im Allgemeinen sind sie die gesündesten Kühe der Herde. Es kann also gesagt werden, dass die Milchkühe in ihrem Leben auf Lorenzens Hof zumeist zwischen der Gruppe A und Gruppe B wandern und in der Gruppe C nur die ersten beiden Jahre ihres Lebens verbringen. In der Zeit vom 1. Mai bis in den September hinein sind die Kühe auf den Weiden, die teils gepachtet, teils Eigentum Sören Lorenzens sind. 

Melken

Im Melkstand (Foto: Marie Marwig)
Im Melkstand (Foto: Marie Marwig)

Im Anschluss an die Besichtigung der verschiedenen Laufställe führt mich Sören Lorenzens in den Melkstand. Die Kühe werden zweimal am Tag, morgens und abends, gemolken. Sie geben im Durchschnitt 30 Liter pro Kuh. Insgesamt können 20 Kühe gleichzeitig gemolken werden. Zehn auf jeder Seite laufen in die Melkboxen, während zumeist zwei der Angestellten in der Mitte, in einem tiefer gelegenen Teil des Melkstandes, stehen.

 

Zuvor wurden die Kühe in kleinen Gruppen von den Angestellten in den Melkstall getrieben, wo sie darauf warten, nach und nach gemolken zu werden. Zunächst müssen die Angestellten die Euter der Kühe mit einem Tuch reinigen und nach Beschwerden kontrollieren. Gleichzeitig überprüfen sie die Qualität der Milch, in dem sie kurz an jeder Zitze des Euters mit der Hand melken. Ein Anzeichen für Beschwerden wäre, wenn die Zitze keine Milch gibt oder Blut in der Milch ist.

 

Nachdem die Euter kontrolliert worden sind, werden die Melkmaschinen von den Melker_innen an die Euter angelegt. Diese haben eine starke Saugfunktion, was das Anlegen sehr leicht macht. Der Wechsel zwischen starkem und schwachem Saugen ist dem Trinken eines Kalbes nachempfunden. Gleichzeitig erkennen die Melkmaschinen, wenn der Melkvorgang einer Kuh fertig ist und lösen sich automatisch vom Euter.

 

 

Das Melken dauert nur acht bis zehn Minuten. Die Milch aller Kühe wird über die Schläuche der Melkmaschinen in einem gekühlten Milchtank gesammelt und wartet dort auf die Abholung durch die Molkerei. Alle zwei Tage holt die Deutsche Milchkontor GmbH (DMK), die größte Molkerei Deutschlands, die Milch auf Lorenzens Hof ab. 

Fütterung

Milchkühe (links Gruppe B, rechts Gruppe C) am Futtertisch der Laufställe (Foto: Marie Marwig)
Milchkühe (links Gruppe B, rechts Gruppe C) am Futtertisch der Laufställe (Foto: Marie Marwig)

Im Allgemeinen enthält das Futter für die Kühe Gras, Maissilage und Kraftfutter. Dies besteht aus ungefähr 20 Prozent Raps, zehn Prozent Soja und 70 Prozent Getreide. Die Getreidemischung setzt sich aus Weizen, Mais und Gerste zusammen und soll für die nötige Energie bei den Kühen sorgen.

 

Während eine Kuh gemolken wird, bekommt sie zusätzlich Kraftfutter angeboten. Die Menge und Zusammensetzung werden vom Computer für jede Kuh bestimmt. Diese Futterbeigabe dient noch einmal dazu, die Kühe individuell zu stärken und die Milchgewinnung zu fördern. 

Nachwuchs

 

Sören Lorenzen und ich verlassen den Melkstall und gehen zunächst zu den Ställen der Kälber. Die ersten 30 bis 35 Tage ihres Lebens verbringen diese alleine in kleinen Boxen. Das soll die Kälber stärken und fördern, um gesund zu bleiben. Sie stehen nicht mit älteren Kälbern in Konkurrenz um die Milch.

 

In den ersten vier Tagen ihres Lebens werden die frisch geborenen Kälber mit Muttermilch ernährt, danach mit dem, was aus Milchpulver angerührt wird. Dabei handelt es sich um einen Milchaustauscher, der nur anteilig aus Kuhmilch gewonnen wird. Nach ihrer Zeit in den kleinen Boxen kommen sie in größere Boxen mit anderen älteren Kälbern, wobei die Kälber nach Geschlecht getrennt werden. 

 

Im Anschluss zeigt Herr Lorenzens seinen Bullen Piet. Der Bulle Piet ist für die Besamung zuständig, sollte die künstliche Besamung bei den Kühen nicht fruchten. Wird eine Kuh nicht trächtig, dann wird sie in den Stall zu ihm gebracht. Diese zweite Methode erwies sich als sehr gut funktionierend. Im Allgemeinen übernimmt die Herdenmanagerin die künstliche Besamung der Kühe. Den Samen dafür bezieht Lorenzen von der Rinderzucht Schleswig-Holstein e. G. Die meisten Kühe werden in der Gruppe A besamt bevor sie in die Gruppe B wandern.

 

Auf unserer Hofbesichtigung gelangen wir zu unserem letzten Punkt: der Stall zum Kalben. In diesem Stall stehen die Kühe, die tragend sind und bald kalben. In die Boxen ist Seesand eingestreut. Der Seesand soll die Kühe beruhigen und bietet eine hygienische Unterlage. Durch den rotierenden Rhythmus auf dem Hof gibt es das ganze Jahr hindurch Nachwuchs.

 

Kälberbox mit Nuckeleimer (Foto: Marie Marwig)
Kälberbox mit Nuckeleimer (Foto: Marie Marwig)
Tragende Kuh auf Seesand (Foto: Marie Marwig)
Tragende Kuh auf Seesand (Foto: Marie Marwig)
Bulle Piet (Foto: Marie Marwig)
Bulle Piet (Foto: Marie Marwig)

Kritik begegnen

 

Auf Nachfrage meinerseits in unserem Gespräch zeigt Herr Lorenzen Verständnis für Kritik an der Milchindustrie und deren Milchproduktion. Er gibt aber zu bedenken, dass die Kuh bereits seit tausenden von Jahren von Menschen gehalten und gezüchtet wird. Die Kuh hat sich durch den Prozess der Züchtung immer besser an die Anforderungen angepasst und sich zu der Milchkuh entwickelt, die sie heute ist.

 

Es wird oft behauptet, dass Kühe jährlich kalben müssen, um Milch zu produzieren. Dies ist jedoch ein weit verbreitetes Missverständnis. Auf Lorenzens Hof liegen ungefähr 450 Tage zwischen der Geburt zweier Kälber. 350 Tage sieht Herr Lorenzen als nicht wünschenswert für die Milchkuh an und denkt, dass andere landwirtschaftliche Unternehmen dies nicht anders praktizieren. Die Kühe brauchen eine gewisse Erholungszeit nach ihrer Tragezeit von ca. 280 Tagen. Zudem versucht er den Kühen ein optimales, gesundes Leben zu ermöglichen und investiert immer wieder in neue Anlagen um die Milchviehhaltung zu verbessern.

 

Als Beispiele dafür nennt er verschiedene Veränderungen auf seinem Hof in den letzten Jahren: Zum einen werden die Kälber nicht mehr direkt nach der Geburt von ihren Müttern getrennt, sondern verbringen mit ihnen die ersten vier bis fünf Stunden ihres Lebens. Für die Kälber wurde in "Nuckeleimer" investiert, die den Zitzen des Euters nachempfunden sind. Dies soll die Speichelproduktion der Kälber fördern, was sehr wichtig für ihre Verdauung ist. Früher tranken Kälber noch aus einfachen Eimern. Dies war ein sehr unnatürlicher Prozess für die Kälber. Ebenfalls dürfen sie heutzutage so viel trinken, wie sie wollen, und sind nicht an Fütterungszeiten gebunden. Die Milch wird regelmäßig von den Angestellten nachgefüllt. Die kleinen Boxen für die jungen Kälber sind ebenfalls Teil der neuen Investitionen auf dem Hof. Früher wurden alle Kälber zusammen in Boxen gehalten. Das hatte oft den Nachteil, dass kleine Kälber das Nachsehen hatten gegenüber den älteren. Zu den jüngsten Modernisierungen gehört die Anschaffung von neuen Liegeplatten für die Milchkühe im Laufstall. Diese Liegeplatten sind sehr viel weicher als die ehemaligen Bodenplatten. Sie sollen den Milchkühen helfen, Schmerzen beim längeren Liegen zu vermeiden und ihnen das Liegen komfortabler machen.

 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Milchproduktion in den letzten Jahrzehnten sehr rationalisiert und ökonomisiert wurde. Auf dem Hof Sören Lorenzens ist das gut zu erkennen. Für mich persönlich ist es schwer die Komplexität im Detail nachzuvollziehen und genau zu beschreiben. Als Laie auf einem neuen Gebiet werden zumeist nur die oberflächlichen Strukturen wahrgenommen. In meiner Lehrforschungsarbeit habe ich dennoch versucht, einen lokalen Einblick in die Mensch-Ding-Tier-Assoziation zu gewinnen, in der Milch produziert wird.

 

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Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) (2017), Milchbericht 2017, online unter http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Broschueren/Milchbericht2017.pdf?__blob=publicationFile [letzter Zugriff: 03.09.2017].

• Cordula Kropp (2006), „Enacting Milk“: Die Akteur-Netz-Werke von „Bio-Milch“, in: Martin Voss/Birgit Peuker, Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion, Bielefeld 2006, S. 203-232.